Claudine Gay und das Ende des Wokeismus (2024)

Weil sie Aufrufe zum Genozid an Juden nicht klar verurteilen mochte, geriet die schwarze Harvard-Präsidentin Claudine Gay in die Kritik. Wer ihren Rücktritt als Zeichen für den Niedergang des «Wokeismus» sieht, irrt.

Lucien Scherrer

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Claudine Gay sieht sich in einem Krieg. Dieser, so schrieb sie einen Tag nach ihrem Rücktritt in der «New York Times», richte sich gegen «die Säulen der amerikanischen Gesellschaft». Sie selber sei das Opfer einer rassistischen Kampagne, die auf die Bildung, die Forschung, die Exzellenz und überhaupt alle «vertrauenswürdigen Institutionen» ziele. Gewiss, sie habe Fehler gemacht, aber sie sei stolz auf ihre Arbeit.

Gay ist am 2.Januar als Präsidentin der weltbekannten Universität Harvard zurückgetreten. Ihr Amt hat sie erst im letzten Juli angetreten, als erste schwarze Person und zweite Frau in der fast 400-jährigen Geschichte der Universität. Ihr Fall wird international diskutiert. Und er wirft die Frage auf, ob der «Wokeismus», also der pervertierte Kampf für soziale Gerechtigkeit und Antirassismus, seinen Zenit überschritten hat.

Sympathie für die Hamas

Die «Kampagne», von der Gay spricht, begann am 5.Dezember. Damals mussten sich mehrere Präsidentinnen von Eliteschulen wegen antisemitischer Umtriebe auf dem Campus vor dem amerikanischen Kongress erklären. Unter anderem ging es um die Frage, ob man Aufrufe zum Genozid an Juden als Regelverletzungen betrachte. Statt klare Antworten zu geben, erklärten die Befragten, es komme auf den «Kontext» an, etwa, ob jemand «als Individuum» (Gay) angegriffen werde.

Dieses Lavieren löste umso mehr Empörung aus, als in Harvard und an anderen US-Universitäten radikale Studenten seit dem Hamas-Massaker vom 7.Oktober öffentlich Morde an Juden feiern und sich mit den Terroristen solidarisieren. Gefördert wird dieser neue Linksradikalismus durch postkoloniale und antirassistische Theorien, die Israel als Kolonialmacht und Juden als weisse Unterdrücker einstufen.

Aufgrund des öffentlichen Drucks trat die Präsidentin der Universität Pennsylvania, Elizabeth Magill, am 9.Dezember zurück. Claudine Gay dagegen blieb im Amt. Sie musste erst gehen, nachdem rechte Aktivisten wie Christopher Rufo Plagiate und handwerkliche Fehler in ihren universitären Arbeiten bemängelt hatten. Nach anfänglichem Zögern veröffentlichten selbst linke Medien wie die «New York Times» und die «Washington Post» Artikel, in denen Gays Rücktritt gefordert wurde.

Ibram X.Kendi sieht sie als Opfer eines rassistischen Mobs

Die erste schwarze Harvard-Präsidentin musste demnach nicht abtreten, weil sie zu wenig gegen postkoloniale Antisemiten auf dem Campus unternommen hatte, sondern weil sie die Standards ihrer eigenen Institution verletzte. Dieser Umstand und gewisse Reaktionen lassen einen zweifeln, ob Gays Abgang wirklich eine Zäsur in Sachen «Wokeismus» markiert. Dessen Anhänger neigen bekanntlich dazu, alle Probleme und Misserfolge bestimmter Leute mit strukturellem Rassismus zu erklären – eine Methode, die nun auch Gays Versagen vertuschen soll.

So erklärte der Harvard-Professor Randall Kennedy, Gay habe nur gehen müssen, weil sie als schwarze Frau «viele Leute» gestört habe. Die deutsche «Zeit» witterte schon am 12.Dezember eine Verschwörung republikanischer Rassisten, die jemanden wie sie nicht als Präsidentin duldeten. Ihre Kritiker werden zum Teil kollektiv verunglimpft, etwa von der Schriftstellerin Celeste Ng, die in den sozialen Medien von «bösartigen Fanatikern» sprach, «die vorgeben, sich um Antisemitismus zu sorgen» und «insbesondere schwarze Frauen als Sündenböcke missbrauchen».

Der schwarze Rassentheoretiker Ibram X.Kendi, der auch in Europa gefeiert wird, behauptete, Gay sei Opfer eines «rassistischen Mobs»: Ihre Arbeiten seien nur deshalb auf Plagiate geprüft worden, weil sie schwarz sei. Ähnliche Theorien verbreiteten Journalisten von einflussreichen Medienhäusern. Meinungsjournalistinnen von MSNBC und der «New York Times» klagten über Angriffe auf «jede schwarze Frau in diesem Land», die «akademische Freiheit», die Diversität und den Pluralismus. Die Nachrichtenagentur AP bezeichnete die Suche nach Plagiaten als «neue konservative Waffe gegen Hochschulen».

Falsche Pronomen sind nicht o.k., Aufrufe zum Genozid aber schon

Dass es unter Gays Gegnern Rassisten gibt und es vielen Republikanern nur um die ideologische Deutungshoheit an den Universitäten geht, ist eine Tatsache. Von einem Angriff auf die akademische Freiheit und den Pluralismus zu sprechen, ist jedoch absurd. Plagiate, so verbreitet sie auch sein mögen, gehören nicht zur akademischen Freiheit. Und wenn es wirklich um Rassismus ginge, wäre Claudine Gay kaum länger im Amt geblieben als ihre weisse Kollegin Elizabeth Magill in Pennsylvania. Ebenso stellt sich die Frage, weshalb Gay als vermeintliches Rassismusopfer weiter an der Universität Harvard tätig sein kann, für ein Salär von geschätzten 900ooo Dollar.

Vor allem aber werden Freiheit und Pluralismus in Harvard und anderswo gerade von jenen unterdrückt, die sich nun als Opfer einer reaktionären Verschwörung gebärden. Gemäss einer kürzlich vom «Spiegel» zitierten Umfrage stufen sich an der grössten Fakultät in Harvard gerade einmal drei Prozent der Professoren als konservativ ein. Gay selber verfasste Konzepte über «systemischen Rassismus» und «weisse Oberherrschaft». In diesem geistigen Klima werden Studenten aufgefordert, sogenannte Neopronomen wie «ze» und «zir» zu verwenden, um genderfluide Personen nicht zu verletzen; ein Student, der sich als Teenager rassistisch in einem Chat geäussert hatte, wurde 2019 von der Universität gewiesen, obwohl er um Entschuldigung bat.

Beifallsbekundungen für Terroristen und Aufrufe zum kollektiven Mord an Juden sind dagegen erlaubt, je nach «Kontext» zumindest. Claudine Gay räumte nach ihrem Rücktritt zwar ein, sie habe es versäumt, «klar und deutlich zu sagen, dass Aufrufe zum Völkermord am jüdischen Volk verabscheuungswürdig und inakzeptabel sind und dass ich alles dafür tun werde, um Schüler vor diesem Hass zu schützen». Diese Einsicht kommt allerdings spät. Denn die Theorien, die in Harvard und anderen Universitäten kursieren, sind längst im Mainstream angekommen. Zumindest bei jener Generation, die in einigen Jahren gesellschaftliche Machtpositionen übernehmen wird.

Das geht unter anderem aus einer kürzlich publizierten Wählerbefragung von «Harvard Caps-Harris Poll» hervor. Demnach stimmten 79 Prozent der 18- bis 24-Jährigen der Aussage zu, wonach weisse Personen Unterdrücker seien. 50 Prozent der gleichen Altersgruppe sagten, sie unterstützten die Hamas, nicht Israel. Eine Mehrheit der Befragten fand, das Massaker der Hamas vom 7.Oktober könne wegen des Leidens der Palästinenser gerechtfertigt werden. Und 53 Prozent der Jungen waren der Ansicht, dass man auf dem Campus das Recht haben soll, zum Genozid an Juden aufzurufen.

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